Jungen als „Loser“?

Das Bild von Jungen in der Schule ist oft negativ geprägt: Sie sind leistungsschwach und stören auch noch. Dieser Befund entspricht oft nicht der Realität. Helfen könnte dennoch ein Nachdenken über eine Jungenpädagogik.

Zwei traurige Jungen vor geschlossenen Türen

Dieser Beitrag ist Teil unseres Dossiers Schule und Zivilgesellschaft.

„Jungen als Bildungsverlierer“, „Mädchen auf der Überholspur“ oder „Die Jungenkatastrophe“. Dies sind nur einige Titel von Publikationen, die sich in den letzten Jahren – bestimmt in guter Absicht – dem Thema „Jungen“ in unserer Gesellschaft gewidmet haben. Die mediale Aufmerksamkeit, die Jungen in den letzten Jahren geschenkt wurde, ist jedoch ambivalent. Das Bild vom Jungen wurde viel zu häufig als „Problemschüler“ in den Fokus gestellt, so dass es in der öffentlichen Wahrnehmung in eine defizitorientierte Schieflage geraten ist.

Vor allem im schulischen Kontext wurden Jungen häufig mit Begriffen wie Störungen, Grenzen austesten, Konfrontation, Verweigerung oder Uneinsichtigkeit in Zusammenhang gebracht. Wenn man von Jungen spricht, geht es meistens um die stereotype Wahrnehmung jener Jungen, die sich mit ihrem Verhalten deutlich nach außen zeigen. Um die stillen und die „im Strom Laufenden“ geht es dabei meistens nicht. Also Vorsicht! Schauen wir auf die Wahrnehmung von Jungen in der Schule.

Ist ihr Verhalten normal?

Die körperliche Entwicklung in der Pubertät kann verständlich machen, wie sich männliches Performanzverhalten auf den Schulfluren zeigt. Wenn in zum Teil rasanter Geschwindigkeit die Körper wachsen und die Muskelmasse zunimmt und sich hormonelle Verhältnisse neu gestalten, dann braucht es Raum, um das neu einzuordnen; für sich selbst und vor den Eltern, in der Peergroup und vor den Mitschüler/innen! „Wo ist mein Platz in der Gruppe/ in der Gesellschaft? Mit welcher Identität bin ich verbunden? Mit welchen Eigenschaften positioniere ich mich gegenüber den anderen?“

Gerade in Unterrichtskontexten fallen Jungen immer wieder störend auf. Dafür scheint es Ursachen zu geben. Mehr Bewegungsangebote in der Schule bzw. im Unterricht können nur eine Antwort darauf sein. Deshalb müssen die Lehrkräfte nicht nur die Unterrichtsmethoden überprüfen, sondern auch durch die Geschlechterbrille schauen, wenn sie in die Auswahl ihrer Themen gehen. Gerade das Fach Deutsch (Mädchen sind in der Kernkompetenz Lesen statistisch in bestimmten Altersphasen den Jungen deutlich voraus) hat hier eine besondere Bedeutung. Vorschnell wird von Seiten der Lehrkräfte den Jungen die Verantwortung dafür zugeschoben: „In der Zeitspanne des Leseknicks haben Jungen einfach keine Lust zu lesen.“

Aber warum ist das so? Werden bei der Auswahl der Literatur auch Themen berücksichtigt, die eher Jungen ansprechen? Gerade wenn der Deutschunterricht – besonders in der Grundschule – von weiblichen Lehrkräften konzipiert und durchgeführt wird, besteht die Gefahr, dass aufgrund weiblicher Sozialisationsmuster, vielleicht ganz unbewusst, eine bestimmte (einseitige) Literaturauswahl getroffen wird und Jungenthemen weniger berücksichtigt werden.

Angebote für Jungen in Schulen

In der Fortbildung von Lehrkräften zeigt sich in den letzten Jahren eine veränderte Wahrnehmung von Jungen: Sie werden etwas differenzierter betrachtet. Dass man von dem Jungen als aggressiven Störer spricht, kommt inzwischen weniger vor. Viele Schulen haben sich mittlerweile mit dem Thema beschäftigt. Viele bildungsbürgerlichen Eltern betrachten auch ihre eigenen Söhne durch die Genderbrille und versuchen ihnen mit Verständnis, angemessenen Angeboten und gendersensibler Pädagogik gerecht zu werden.

Etwas ist jedoch gleichgeblieben: Schulen kümmern sich strukturell bzw. in der konkreten Umsetzung noch viel zu wenig um die individuellen Bedürfnisse von Jungen. Sie machen zu wenige Angebote, priorisieren andere Themen und rechtfertigen damit ein Vernachlässigen dieser Thematik. Das erscheint unverständlich, geht es doch (je nach Schulform) um eine große Gruppe von Kindern bzw. Jugendlichen.

Jungen lernen anders

Oft bleibt es bei der oberflächlichen Beschäftigung mit der Thematik durch eine Fortbildung und bei dem Bekenntnis, „nun auch einmal etwas für die Jungen tun zu müssen“. Dass jedoch Veränderungen im System vorgenommen werden, damit kontinuierliche Angebote für Jungen gewährleistet werden, ist eher selten der Fall. Dafür müsste man strukturell sicherlich eine ganze Menge umstellen. Wenn man berücksichtigen will, dass viele Jungen Lerngegenständen eher durch Haptik bzw. erforschend und entdeckend begegnen, müsste Unterricht überprüft und modifiziert, müssten Räumlichkeiten anders genutzt bzw. neu konzipiert werden.

Vorbilder

Personelle Kontinuität durch männliche Pädagogen an Grundschulen, die für diesen Bereich qualifiziert sind, ist dabei ebenfalls wichtig. In einer Gesellschaft, die eine große Bandbreite an vielfältigen Männlichkeitsbildern zulässt, schreibt man männlichen Rollenbildern für Jungen eine wichtige Funktion zu. Jungen benötigen diese Orientierungs- bzw. Identifikationsobjekte, um ihre Persönlichkeit zu entwickeln. Es ist kein Geheimnis, dass männliche Pädagogen bzw. Lehrkräfte an Grundschulen selten vertreten sind. Doch sollte man nicht auf die Debatte „Mehr Männer in der Grundschule“ warten, sondern nach Alternativen schauen und diese direkt umsetzen (wie aktive Väterarbeit in Form von „Väter lesen vor“ und „Vätercafés“).

Natürlich nimmt nicht jeder Junge gezielte jungenpädagogische Angebote für sich in Anspruch. Die Kontinuität, mit der die Debatte um Jungen seit Jahren geführt wird, rechtfertigt jedoch, diese Maßnahmen insbesondere im Ganztagsschulangebot regelhaft zu etablieren Die zunehmende Anzahl von weiblichen Lehrkräften an Grund- und weiterführenden Schulen macht die Auseinandersetzung dieser Kolleginnen mit Lebens- und Denkweisen von Jungen unbedingt erforderlich. Eine Frage, die in diesem Zusammenhang immer wieder gestellt wird, ist: Können Frauen auch jungenpädagogisch arbeiten, z.B. in der Anleitung von Jungengruppen? Dies soll an dieser Stelle eine deutliche Ermutigung zu einem „Ja“ sein, da Jungen spüren, wenn ein authentisches Interesse besteht, sich mit ihnen zu beschäftigen.
Zusammen oder getrennt?

Auswirkungen der Debatte um jungengerechtere Schule zeigen sich teilweise in Maßnahmen wie z.B. der Einrichtung geschlechterhomogener Klassen oder von Kampf- oder Sportkursen als gezielten Angeboten für Jungen. Auch das ist ambivalent zu bewerten. Man meint es sicherlich gut. Doch sollte das nicht zu retraditionalisierten Tendenzen führen, an deren Ende womöglich die Wiedereinführung von Mädchen- und Jungenschulen steht. Zudem sollte man sich vorher die Frage stellen, welche Intentionen damit verfolgt werden? Meistens hat die Einrichtung von monoedukativen Klassen das Ziel, die Leistung zu steigern. Dabei geht es oft gar nicht darum, pädagogische Lösungen für eine gemeinsame Schule zu finden. Zudem ist nicht klar belegt, dass Lernergebnisse in getrenntgeschlechtlichen Gruppen besser ausfallen. Unterschiede sind allenfalls minimal und z.T. widerlegbar. Durch Jungen- und Mädchenklassen wird die Kategorie Geschlecht hingegen viel zu sehr dramatisiert!

Warum sollte man sich nicht der pädagogischen Aufgabe stellen, Jungen und Mädchen gemeinsam zu unterrichten, wenn in so vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens über diverse Gleichstellungsausschüsse und Gesetzesgrundlagen versucht wird, ein paritätisches Abbild des öffentlichen Lebens herzustellen?

Eigene Haltung überdenken

Denkt man an Jungen und Unterricht, werden mittlerweile unterschiedliche Modelle von Schulen überlegt bzw. umgesetzt. Jungen von Mädchen in bestimmten Phasen des Sportunterrichtes voneinander zu trennen und geschlechterhomogen zu unterrichten, ist eines davon. Kinder haben allerdings unterschiedliche Zugänge zu Lerninhalten, somit auch Jungen. So sinnvoll es ist, sich über jungengerechten Unterricht Gedanken zu machen, so ist ebenfalls über die eigene Haltung nachzudenken, die ich einem „verhaltensoriginellen“ Jungen gegenüber einnehme. Folgende Fragen können dabei unterstützen:

  • Was stört mich an seinem Verhalten? Warum stört es mich?
  • Welche Möglichkeiten habe ich, ihm zu begegnen?
  • Wo setze ich ihm eindeutige Grenzen? Welche davon sind sinnvoll?
  • An welchen Stellen kann ich das Gespräch mit ihm suchen? Welche Form wähle ich dafür?
  • Wen kann ich dabei einbeziehen? Wo kann ich mir Hilfe holen?
  • Welche Interventionskette sollte an meiner Schule entwickelt werden?

Gesprächsangebote schaffen. Schulkultur reformieren.

Geht es um Typen von Männlichkeitsbildern, so haben wir es in der öffentlichen Wahrnehmung auch mit idealisierten Darstellungen zu tun, die einen Einfluss bzw. eine Wirkung auf Jungen haben können! Selbstverständlich orientieren sich auch Jungen an diesen Bildern. Für Mädchen existieren häufig Formate, die sich kritisch mit einseitigen Darstellungen auseinandersetzen und die thematisieren, dass die Vielfalt an Körperbildern größer ist, als die bei „Germany‘s next Topmodel“. Für Jungen scheint es gerade dies häufig nicht zu geben. Dabei wäre das in so großen Schulsystemen wie einer Ganztagsschule umso wichtiger, da Kinder und Jugendliche einen großen Teil des Tages nicht zu Hause verbringen. Und auch in den heimischen Wänden ist es fraglich, ob sich die Erziehungsberechtigten gemeinsam mit ihren Kindern mit diesen Fragen beschäftigen.

Präventiv arbeiten

Schulen lassen Möglichkeiten präventiv zu arbeiten ungenutzt, wenn sie Schülern neben dem Unterricht nicht geschlechterhomogene Gruppen („Jungengruppen“) anbieten. In diesen Gruppen (im Idealfall durch einen Mann angeleitet) entsteht eine spezielle Dynamik, die anders ist als in gemischtgeschlechtlichen Gruppen.

So könnte in einer solchen Gruppe beispielsweise…

  • eine Unterstützung in der Herausbildung einer männlichen Identität stattfinden,
  • eine Gesprächskultur etabliert werden, die es Jungen ermöglicht, jenseits von Familie alternative Lebens- oder Berufsmodelle zu entwickeln,
  • die Überlastung von Schülern dort eher erkannt werden,
  • soziales Miteinander erfahren bzw. erlernt werden,
  • eine Radikalisierungstendenz frühzeitig erkannt werden.
  • Methodisch kann hier ganz unterschiedlich gearbeitet werden. Neben Wettkampfspielen können Kooperations- oder Koordinationsübungen sinnvoll sein. Wichtig sind aber auch Gesprächsrunden, sogenannte „Jungenkonferenzen“. Die Einrichtung solcher Gruppen muss von Schule natürlich gewollt und kontinuierlich sein. Einige Schulen haben sogar Jungen- und Mädchenbereiche als Rückzugsraum ausgewiesen.

Fazit

  • Schule muss konsequenter an der Umsetzung jungengerechter Maßnahmen arbeiten und die Kontinuität dieser Arbeit personell und strukturell gewährleisten.
  • Das Geschlecht darf nicht überdramatisiert werden; unterschiedliche Angebote für Jungen und Mädchen sind aber dennoch sinnvoll.
  • In der Arbeit mit herausfordernden Jungen sollte man sich Rat und Hilfe von geschulten Jungenpädagogen holen und im Team arbeiten.
  • Monoedukation darf nicht als Rezept gegen störende Jungen eingesetzt werden.
  • Unterricht sollte insgesamt mehr handlungs- und erfahrungsbasierte Konzepte für das Lernen nutzen (entdeckendes Lernen, experimentelle Szenarien) und Schülern Möglichkeiten geben, unterschiedliche Lernzugänge zu nutzen. Das tut beiden Geschlechtern gut, möglicherweise aber mehr den Jungen.
  • Klassen temporär monoedukativ unterrichten.
  • Durch das Lernen mit Hilfe digitaler Medien können Jungen neue Dimensionen jener Technik entdecken, die in ihrer Lebenswelt eine große Rolle spielt. Jungenpädagogische Arbeit setzt Kompetenzen voraus, die von Lehrkräften beiderlei Geschlechts erworben werden sollten.
  • Teilnahme an Wettbewerben (häufig eine wichtige Kategorie für Motivation bei Jungen).